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Abtreibung – Eine Frau erzählt…

Wir können Michelles Leben leider nicht mehr #fairändern, aber wir hoffen, dass der Mut, ihre persönliche Geschichte zu erzählen, andere Frauen vor einem ähnlichen Schicksal bewahren kann. Danke Michelle, dass du dir Zeit genommen hast. Wir wünschen dir und deiner zukünftigen Familie große Freude und Gesundheit!

Sie ist ja selber schuld, ich würde das meinem ungeborenen Kind niemals antun!“

Michelle wurde immer wieder Opfer von ungerechtfertigten Vorurteilen. Was das mit ihr, mit ihrem Wohlbefinden und Selbstwert anrichtet, darüber machen sich nur wenige Gedanken. Wie leicht fällt es uns, andere Menschen zu verurteilen ohne deren Geschichte zu kennen? Wie schnell kommen wir eigentlich zu Schlussfolgerungen, ohne den dahinterliegenden Menschen und seine persönlichen Erfahrungen versuchen zu verstehen?

Ich sitze gegenüber von Michelle, die nun zum zweiten Mal in ihrem Leben schwanger ist und die sich nun endlich auf ihr Kind freuen kann. Massivstem familiären Druck ausgesetzt, ließ Michelle in ihren jungen Zwanzigern eine Abtreibung durchführen. Der Eingriff veränderte ihr ganzes Leben.

Hineingeboren in eine Familie mit einer schwierigen Ausgangssituation – ein Vater, der zu Gewaltausbrüchen tendierte, eine Mutter, die nur wenig Empathie aufbrachte – wahrscheinlich, weil sie selber depressiv war – kämpfte Michelle seit Kindertagen um ihre Selbstbestimmung.

Ich weinte oft nächtelang durch. Ich hatte häufig das Gefühl, nicht willkommen zu sein. “

Nachdem sich die Eltern getrennt hatten und die Mutter einen neuen Mann in ihr Leben ließ, änderte sich die Situation nur bedingt. Das Verhältnis zwischen Michelle und ihrer Mutter war sehr schwierig und verschlimmerte sich, da ihre Mutter grundlos eifersüchtig auf ihre Töchter zu sein schien. Schließlich wurde Michelle eines Tages zu einem unfreiwilligen Auszug gedrängt. So packte sie also zwei Koffer und zog zu der Freundin einer ihrer Schwestern. Sie war damals 19 Jahre alt. Um über die Runden zu kommen, arbeitete sie nebenbei immer wieder in Kaffeehäusern und gab den SchülerInnen vom Tagesgymnasium Tanzunterricht. Sie war gerade dabei, an einer Abendschule zu lernen.

Um die Krise des Alltags ein wenig zu vergessen, ging Michelle abends gern mit ihren Freundinnen aus. Schon länger hatte sie Jeremy beobachtet – er gefiel ihr sehr gut und sie wollte ihn gerne kennenlernen. Eines Abends passierte es: Sie kamen ins Gespräch und verstanden sich auf Anhieb.

Ich empfand von Anfang an eine unheimliche Sympathie und ein unglaubliches Gefühl ihm gegenüber. Das hatte ich niemals davor empfunden.“

Michelle war zu diesem Zeitpunkt in ihre eigene kleine Wohnung gezogen. Jeremy übernachtete öfters bei ihr. Sie war sehr verliebt und glücklich. Nach kurzer Zeit bemerkte sie, dass sich etwas veränderte. Sie hatte eine Ahnung und entschied sich dafür, einen Schwangerschaftstest zu machen. Er war positiv.

Als Jeremy davon erfuhr, reagierte er angsterfüllt. Er fühlte sich nicht bereit für diese Verantwortung; er war doch selber noch so jung und hatte keinerlei finanzielle Mittel. Auch die Michelles Familie war schockiert. Der Vater, der sie wieder bei sich aufnahm, als sie nicht mehr genug Geld für ihre Wohnung aufbrachte, war sehr wütend. Er riet ihr, eine Abtreibung durchzuführen. Michelle hatte noch keine Ausbildung; sie und Jeremy kannten sich im Grunde auch zu wenig und das Kind hätte sowieso keine Zukunft. Die Familie arrangierte einen Termin in einer Klinik. Von dem massiven Druck ihrer Familie überwältigt, ließ sich Michelle zu dem Eingriff überreden. An diesem Tag hatte sie alles verloren: ihren Freund, ihr zukünftiges Kind und ihre Freude.

Sie hatte damals weder vor, noch nach dem Eingriff eine Beratung oder Unterstützung seitens der Ärzte oder ihrer Familie erhalten. Sie war am Boden zerstört und rang mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Zwei Wochen später fuhr sie ins Landeskrankenhaus und ließ sich freiwillig in der psychiatrischen Abteilung aufnehmen. Die Abtreibung ging ihr nicht aus dem Kopf, sie fühlte sich hilflos und schuldig. Die Beziehung zu Jeremy war vorbei und sie hatten auch keinen Kontakt mehr. Er wusste nichts von ihrem Aufenthalt im Krankenhaus. Michelle war insgesamt fünf Jahre in psychiatrischer Betreuung – sie bekam Medikamente und wurde in einem Programm für betreutes Wohnen untergebracht. Per Zufall rannte sie einen Tages in einem Shoppingcenter in Jeremy. Es war das erste Treffen seit damals und sie hatten sich viel zu erzählen. Michelle schämte sich jedoch für ihren Aufenthalt in der Psychiatrie und

erzählte daher nicht, dass sie immer noch mit den Folgen der Abtreibung zu kämpfen hatte. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass auch Jeremy von der Entscheidung damals betroffen war; er machte sich starke Vorwürfe und entschuldigte sich bei Michelle. Sie tauschten ihre Nummern aus, in der Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Einen Monat später nahm sich Jeremy das Leben – zu einem Wiedersehen kam es nicht…

Für Michelle war klar: Das alles war durch die Abtreibung ausgelöst worden. Sie hatte durch den Eingriff nicht nur ihr ungeborenes Kind, sondern auch sich selbst verloren. Da sie von ihrem Vater zu diesem Eingriff gedrängt wurde, dauerte es etliche Jahre um darüber hinwegzukommen. Vergessen wird sie es aber nie.

Ich hätte es nicht getan, wenn ich nicht so einem massiven Druck ausgesetzt gewesen wäre. Das ist keine Ausrede, das ist die Wahrheit. Nichts kann eine Frau mehr zerstören, denn für mich war es eine seelische Vergewaltigung.“

Michelle hat der Veröffentlichung ihrer Geschichte zugestimmt, weil sie andere Frauen vor diesem Eingriff warnen möchte. Während sie so vor mir sitzt und ihre Geschichte erzählt, kommen wir zu dem Schluss, dass ihre persönliche Geschichte selbstverständlich nicht verallgemeinert werden darf. Es handelt sich um ihre Erfahrung, ihr Leben. Wir können anderen Menschen mit unserer Erfahrung Mut machen oder sie vor etwas warnen – und wir dürfen niemanden von vornherein verurteilen.

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